Der Pharao und die Eigenmacht der Wehfrauen
Kassibert am von J. Isaksen. Lesezeit: ungefähr 17 Minuten. Kommentar mailen
Ein gedankliches Gastspiel von Therese »Pua« Schlundt
GEBURTSLEGENDEN Der Meister mag sagen, er sei dabei gewesen – aber was ist dran an Goethes eröffnenden Rede, er sei durch die Ungeschicklichkeit der Hebamme “für tot” zur Welt gekommen? Wen machen wir verantwortlich für den Urschmerz unserer Entbindung? – Großmutter Pua, Mutter meiner Mutter und ihres Zeichens selbst Hebamme, unternahm zu Goethes 230. Geburtstag den Versuch einer Ehrenrettung für die geschmähte Wehmutter. Sie hinterfragt dabei die allzu leichtfertig strapazierte Meistererzählung vom Fremdverschulden bei der Schwierigkeit unseres umnebelten Welteintritts.
IN JENEN TAGEN TAT SICH EIN GEWALTIGER HIRSCHGRABEN AUF Ein Bild aus der Zeit der Goetheschen Geburtswehen: Giambattista Tiepolo (1696-1770), Auffindung des Moses. – Sigmund Freud beruft sich auf die Größe Goethes, wenn er 1939 in »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« Heureka ruft und seinen Helden zum ausschlaggebenden Findelkind des ganzen Schlamassels macht; oder: Von der Selbstreferenzialität großer Männer.
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Den folgenden Vortrag hielt die Hebamme Therese Schlundt am 29. November 1989 anlässlich des 100. Jubiläums des Kölner Hebammenvereins – unter dem Titel “Versuch einer Ehrenrettung für Goethes Hebamme”. Es gilt das geschriebene Wort: wir folgen dem ungekürzten Text des bereits aus dem Jahr 1979 stammenden Manuskripts; die 1995 in der Fachzeitschrift “Die Hebamme” und 2005 im Aufbau-Verlag publizierten Versionen erschienen gekürzt und inhaltlich verändert.
Versuch einer Ehrenrettung für Goethes Hebamme
Von Therese Schlundt, geboren 1922, in Frankfurt aufgewachsen
In seinem Buch ‘Dichtung und Wahrheit’ schreibt Goethe gleich zu Anfang: ‘Durch die Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, dass ich das Licht erblickte’. – Ich habe mir über die auch an anderer Stelle der Hebamme nachgesagten ‘Misshandlungen’ Gedanken gemacht … In alten Hebammenbüchern kennt man noch die Schulzchen Schwingungen zur Wiederbelebung eines stark aspyktischen oder tot geborenen Kindes. Ob die Hebamme Goethes sich dieser Methode bedient hat, um das scheintote Kind wiederzubeleben? Man faßte das Kind unter den Armen und schwang es auf eine bestimmte Art hin und her. Das musste in der Wahrnehmung eines Laien überaus gewalttätig anmuten.
»An Jahren siebenzig und fünf lebte ich in der Welt, und 41 Jahre war ich im Amt bestellt. Zehn Tausend Kinder sind durch Gottes Gnade empfangen, nun laß mein Schöpfer mich zur wahren Ruh gelangen« – Grabspruch einer Hebamme Müller aus Frankfurt, vermutlich Goethes Hebamme, bei der Geburt Goethes 66 Jahre alt. Nach einer anderen Quelle soll die 20-jährige Antonia Elisabeth Heid beigestanden haben, wobei ich es aber für eher unwahrscheinlich halte, dass der Rath Goethe eine derart junge und unerfahrene Hebamme zur Erstgeburt seiner Frau bestellte.
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Die Hebamme Müller wurde am frühen Morgen gerufen. Der Hausknecht der Goethes leuchtete ihr den Weg. Als sie am Großen Hirschgraben ankamen, dämmerte schon der Tag herauf.
Das Geburtszimmer im zweiten Stock war hergerichtet; es ging zum Garten hinaus. Die Vorhänge waren zugezogen. Eine Magd hatte alles vorbereitet: Heißes Wasser dampfte in einer Schüssel; linnene Tücher waren bereitgelegt. Die junge Frau Katharina Elisabeth Goethe, eine geborene Textor, ging noch eine Weile umher, legte sich dann aber hin. Die Hebamme untersuchte sie. Obwohl die Hebamme gerne gesehen hätte, dass die Schwangere wieder aufgestanden wäre, war diese nicht dazu zu bewegen. Die Wehen kamen alle zehn Minuten und waren noch schwach, wie die Hebamme mit aufgelegter Hand ertastete. Und obwohl das so war, hielten alle – die Mutter der Gebärenden und auch die zwei Mägde, die ihr zur Hand gingen – die Geburt für schon im vollen Gange. Zwar ging bereits etwas Blut und Schleim ab, der Muttermund hatte aber erst eine Weite, die dem Durchmesser eines Kreuzers entsprach, auch fühlte er sich noch ausgesprochen hart an.
Die Hebamme gab es auf, die Kreißende zum Wandern anzuhalten. Sollte sie doch im warmen Bett bleiben, wenn sie es unbedingt wollte. Und es dauerte nicht lange, da schlief die Achtzehnjährige tief und fest, und auch ihre Mutter war im Lehnstuhl eingenickt. Es war ein Bild des Friedens; nur die Uhr tickte und zeigte die sechste Stunde an.
Die Hebamme wurde unruhig. Um diese Stunde erwachte für gewöhnlich ihr Mann und mußte gebettet werden. Das besorgte ansonsten bereitwillig die Tochter; nun aber befand sich ihr einziges Kind in den letzten Wochen einer schwierigen Schwangerschaft.
Kurz entschlossen gab die Hebamme der draußen wartenden Magd Bescheid, sie sei gleich zurück und eilte über den Rossmarkt ihrem Hause zu. Sie fand ihre Tochter schwer atmend neben dem Bett des Vaters sitzend; die Arbeit war bereits getan. Wenn es jetzt bei ihr losging mit den Wehen! – Die Hebamme hastete zurück, bedrückt von dem Gedanken, dass ihr Mann, obwohl er sie gehört haben musste, nicht den Kopf nach ihr gewendet hatte. Vor zwei Jahren hatte bei der Arbeit im Wald ein starker Ast seinen Rücken gestreift. Seit dieser Zeit lag er zu Bett und konnte sich kaum noch bewegen.
Als sie die Treppe zum Goethe-Haus hochstieg, war sie mit den Gedanken wieder ganz bei der Gebärenden. Sie war kaum zehn Minuten weg gewesen und fand alles unverändert vor. Herr Rath Goethe war ihr auf der Treppe begegnet und hatte ihr einen strengen Blick zugeworfen.
Eine halbe Stunde später kamen die Wehen endlich wieder, wurden häufiger und stärker. Die Hebamme hatte der jungen Frau einen heißen Topfdeckel, umwickelt mit vielen Lagen Flanelltüchern, vor den Bauch gelegt, und die Wärme tat ihre Wirkung. Es war zwar August, aber am Morgen kühl. Die Wehen wurden also länger, die Pausen blieben bei fünf Minuten – und das war gut so. Die Hebamme rieb der jungen Frau in der Wehe den Rücken. Auf der anderen Seite des Betts stand die Mutter der jungen Frau und forderte die Tochter auf, ihr die Hände zu drücken, wenn die Wehe kam. Die Erstgebärende tat das dann auch, machte sich steif dabei und warf den Kopf zurück.
Draußen hörte man den Kaiserlichen Rath auf- und abgehen. Die Hebamme wußte, dass es noch Stunden dauern würde. Es war dämmrig im Zimmer. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen. Nur durch einen Spalt sah man, dass draußen ein herrlicher Augusttag heraufkam.
Eine der Mägde brachte der Hebamme etwas zu essen. Sie war dankbar dafür; den Hunger hatte sie an diesem Morgen noch gar nicht stillen können.
Die Gebärende begann sich herumzuwälzen – auch wenn keine Wehen kamen. Das kostete Kraft. Die Hebamme hätte lieber gesehen, wenn sie die Pausen zum Ausruhen genutzt hätte. Aber von der Mutter immer wieder aufgefordert sich an sie zu klammern, hörte die junge Frau die Ermahnungen der Hebamme nicht – sie war wie abgeschottet.
Die Hebamme mußte daran denken, wieviel einfacher es doch bei armen Frauen war, Frauen, die auf sie hörten und bedenkenlos taten, was sie ihnen anriet. Seit Stunden rieb sie der jungen Frau in der Wehe den Rücken und kühlte ihr ab und zu die Stirn. Jetzt fielen ihr allmählich die Augen zu. Trotzdem entging ihr nichts vom Verlauf der Geburt. Unter ihrer Hand fühlte sie, wie sich die Gebärmutter aufbäumte. Alles nahm einen regelrechten Verlauf.
Die Hebamme dachte an die vorletzte Nacht. Sie war zur Frau des Häuslers Anton gerufen worden. Sie hatte der Frau schon fünfmal in Kindesnöten beigestanden. Die Geburt des Kindes war gut verlaufen, aber um Mitternacht hatten sie und der herbeigerufene Arzt den Kampf um das Leben der nunmehr sechsfachen Mutter aufgeben müssen. Die Frau hatte nach der Geburt zu bluten begonnen, und die Blutung war nicht mehr zum Stillstand gekommen.
Dichtung & Wahrheit
Auch SAFRANSKI folgt dem vom großen Meister vorgegebenen Geburtsverlauf und lässt in seiner aktuellen Goethe-Biografie “Kunstwerk des Lebens” ganz nebenbei die gesichtslos bleibende Geburtshelferin in Ungnade fallen.
Ist es vielleicht so, dass auch uns nur ganz selten eine Verschiebung des gewohnten Blickwinkels gelingt – gerade beim eingebrannten Blick auf die ganz Großen?
»Bei SCHLUNDT geht es mir weniger um ihre Intention, der ‘Richtigstellung’ eines historischen Sachverhaltes, sondern um den Beweis, dass ein literarischer Text (…) inspirieren (…) kann. Sie schreibt in ihrem Versuch einer Ehrenrettung für Goethes Hebamme, wie es gewesen sein könnte und spielt mit ihrer Phantasie und ihrer Handschrift«, schreibt SCHNETTLER in “Die Geburt als Thema biographischer Literatur”.
So ist es am Ende vielleicht die Dichtung, die uns der Wahrheit näher bringt, nicht einer dokumentierten Wahrheit, aber einer denkbaren unter vielen erdenklichen.
Die Eigenmächtigkeit der dichterischen Freiheit war es wohl auch, die der langjährigen Hebamme Therese Schlundt irgendwann den mosaischen Hebammennamen “Pua”2. Mose 1 Und der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen, von denen der Name der einen Schiphra und der Name der anderen Pua war, und sagte: Wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt helfet und ihr sie auf dem Geburtsstuhl sehet: wenn es ein Sohn ist, so tötet ihn, und wenn eine Tochter, so mag sie leben. Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten zu ihnen gesagt hatte, und erhielten die Knäblein am Leben. Und der König von Ägypten rief diet Hebammen und sprach zu ihnen: Warum habt ihr dieses getan und die Knäblein am Leben erhalten? Und die Hebammen sprachen zum Pharao: Weil die hebräischen Frauen nicht sind wie die ägyptischen, denn sie sind kräftig; ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie geboren. Und Gott tat den Hebammen Gutes; und das Volk mehrte sich und wurde sehr stark. Und es geschah, weil die Hebammen Gott fürchteten, so machte er ihnen Häuser. Da gebot der Pharao all seinem Volke und sprach: Jeden Sohn, der geboren wird, sollt ihr in den Strom werfen, jede Tochter aber sollt ihr leben lassen. einbrachte – so steht sie bis auf den heutigen Tag im örtlichen Telefonbuch aufgeführt. Pua, die Verschonerin der Erstgeborenen, insbesondere gar von Mose selbst, ist die Gegenfigur zum großen ungnädigen Pharao Goethe, der unablässig die Wehfrau schmäht, die ihn das Licht der Welt erblicken ließ. Und doch ist Goethe auch Moses, nicht im streng biblischen Sinne gesprochen, sondern immer ganz frei und literarisch: schon die junge Therese hat in Frankfurter Tagen alles von ihm verschlungen. Das Abitur besteht sie geschwängert von Goethe – im sechsten Monat mit meiner Mutter unterm Herzen. Letzteres vor allen Menschen verborgen: damit die Pharaonen – Vater, Pfarrer, Direktor – ihr das überaus unzeitige Kind nicht verfluchten. Ihr selbst war nur dieses eine frühe Kind beschieden; geholt hat sie später als Hebamme eine ganze Reihe: fünfzig Jahre lang jeden vierten Tag ein neues. Unter den 4.573 Hausgeburten waren auch unzählige Sprösslinge derer, die aus der Fremde gekommen waren, um sich hier unter das Joch der Arbeit zu begeben; eine Mehrung, die der Pharao der Sarrazinen den wahllos beistehenden Wehfrauen gründlich verdenken würde – später dann, in unseren Tagen. J. Isaksen
Die Hebamme dachte aber auch an andere Dinge. Gewohnt geradeaus zu sehen und doch zu bemerken, was links und rechts geschah, hatte sie in dem Haus der armen Leute beim Gang über den Flur bemerkt – sie wollte in die Küche, den bewährten warmen Topfdeckel erneuern – wie sich zwei Gestalten im Halbdunkel an die Kellertür drückten. Sie hatte schon seit der Geburt des fünften Kindes den Verdacht, dass der Ehemann mit der jüngeren Schwester seiner Frau etwas hatte, und sie glaubte auch zu wissen, dass dies für die Ehefrau kein Geheimnis war. Denn deren Augen hingen allzu flehentlich an den Zügen der Hebamme. Die Hebamme hatte ihr immer wieder beruhigend über den Kopf gestrichen und ihr auch die Hand gehalten, als die Lebenskräfte versiegten. Als die Frau des Häuslers Anton starb, stand die Nachbarin weinend mit dem jüngsten Kind auf dem Arm am Fußende. Die Schwester lief schreiend hinaus. Der Häusler saß in der dunkelsten Ecke, den Kopf in den Händen vergraben. In der entgegengesetzten Ecke drückten sich die anderen vier Kinder erschreckt zusammen. Man hatte sie hereingerufen, als es mit ihrer Mutter zu Ende ging.
Die Hebamme versorgte an jenem Tag noch das Neugeborene und verließ dann das Haus gegen drei Uhr morgens. Der Arzt war schon vorher gegangen. Er hatte sich stumm vor ihr verabschiedet. Auch er war übermüdet und am Ende seiner Kräfte. Beide wußten, dass es nicht in ihrer Macht gelegen hatte, die Frau vor dem Verblutungstod zu retten.
Wieder zu Hause, fiel die Hebamme in bleiernen Schlaf; am nächsten Morgen brauchte sie lange, bis sie zu sich kam. Unter der Pumpe im Hof ließ sie sich das kalte Wasser über Arme und Nacken laufen.
Jetzt merkte die Hebamme, dass es bei Frau Rath Goethe auf die Preßwehen zuging. Sie holte den Preßriemen aus ihrer Tasche und schlang ihn um das Fußende des Bettes. Dann gab sie der Gebärenden, die jetzt auf dem Rücken lag, die Schlaufen in die Hände – und forderte sie zum Pressen auf. Jetzt wurde die werdende Großmutter sehr umsichtig und half ihr dabei.
Aber ihr gemeinsames Erklären und Zureden drang nicht bis zur jungen Frau vor. Die Augen aufgerissen, den Kopf weit zurückgeworfen, nahm sie nichts davon wahr, schrie und keuchte nur. Die Schritte im Flur waren verstummt. Die Hebamme merkte, dass der Kopf des Kindes sichtbar wurde, und das, obwohl die Gebärende die Knie zusammenkniff. – Nur eine Preßwehe noch, wenn die junge Frau nur mithülfe!
Schließlich schob die Hebamme das Kind hinaus, indem sie ihren Unterarm auf den Bauch der Frau legte und mit aller Kraft nach unten drückte. Frau Rath Goethe glaubte, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen und tat einen spitzen Schrei – aber der Kopf war geboren. Die Entwicklung der Schulter machte dann noch einmal Schwierigkeiten, aber schließlich lag ein kleiner Junge fast am Fußende des Bettes. Er war dunkelblau. Der Schatten des hohen Fußendes verstärkte noch diesen Eindruck. Die Hebamme nabelte das Kind ab, hielt es an den Füßchen hoch und ging mit dem Zeigefinger, um den sie ein Leinenläppchen geschlungen hatte, dem Kleinen in den Mund, um Schleim und Fruchtwasser zu entfernen. Die Mägde stürzten herein mit einer Wanne voll warmen Wassers. Die Hebamme prüfte die Wärme mit dem eigenen Ellenbogen, ehe sie das Kind hineingleiten ließ. Ab und zu spritzte sie ihm kaltes Wasser auf die Brust. Der Kleine streckte sich, fing langsam an zu wimmern, um sich dann lauthals über die Behandlung zu beschweren; endlich schrie er aus Leibeskräften.
Seit seiner Geburt gegen zwölf Uhr mittags – die nahe Katharinen-Kirche hatte vor kurzem geläutet – waren vielleicht zwei Minuten vergangen. Er färbte sich zusehends rosig. Den Angehörigen mag dies lange vorgekommen sein.
Der Vater kam herein. Er beugte sich über seine Frau, strich ihr über den Kopf, und einen Augenblick sah es so aus, als wolle er ihr einen Kuß geben. Er tat es dann aber doch nicht und zog sich ans Fußende des Bettes zurück.
Als die Nachgeburt kam, und die Hebamme die junge Mutter sorgfältig untersuchte, ging der Vater hinaus. Als er wieder ins Wochenzimmer kam, hatte die Hebamme das Kind in vorgewärmte Tücher eingeschlagen und der Mutter an die Brust gelegt. Dort lag es und trank genussvoll in ruhigen, steten Zügen. Das war für die Hebamme der Beweis, dass es keinen Schaden genommen hatte. Fast eine halbe Stunde trank es ohne Pause, bis die Hebamme es abnahm, um Mutter und Kind endgültig zu versorgen. Dann rollte sie den Preßriemen zusammen, packte ihre Tasche und verließ das Haus.
Die Pflege der Wöchnerin übernahmen die Großmutter und eine Pflegerin. Wochen später sah sie die junge Mutter auf dem Markt wieder. Zur Geburt von Johann Wolfgangs Schwester Cornelia Friederike Christine im Dezember des darauffolgenden Jahres wurde sie nicht gerufen. Auch nicht zu den Geburten der anderen Goethe-Kinder: Ein Kind wurde tot geboren; zwei Jungen und zwei Mädchen starben alle im frühen Kindesalter.
Die Legende meiner Geburt
Ungeordnete Geschäftsübernahme
Keine Uneinigkeit besteht bezüglich des Tages meiner Geburt, dass ich in einer engen Berliner Ladenwohnung ohne Badezimmer zur Welt kam, dass das Schaufenster die erste Kinderstube absteckte, und dass so mancher geschäftige Passant angesichts meiner Darbietungen hinter Glas amüsiert innehielt. Uneins sind sich die Eltern jedoch, welche Nutzung die Ladenräume vor der Übernahme durch die Familie hatten. Die Mutter spricht von abblätternden Lettern an der Fassade: Abraham & Cie. – Obst und Gemüse. Der Vater hielt lange dagegen: Abraham & Sohn – Bestattungen und Überführungen. Sie bleibt bis auf den heutigen Tag beim Obstladen, er hat unterdessen sein Gedächtnis verloren, zumindest den Willen sich zu erinnern; selbst meine Werdung scheint ihm nicht mehr zweifelsfrei erwiesen. So bleiben die Anfänge des Familienbetriebs im Dunkeln. Mein Geburtshaus ist längst abgerissen, und die ersten wie letzten Zeugen tun sich schwer mit der Erinnerung. Bisweilen frage ich mich, ob ich am Ende die Pietät beerbte – oder ein ausgemacht fruchtbareres Geschäft.J. Isaksen
Die Geburt des kleinen Johann Wolfgang, so genannt nach seinem Großvater mütterlicherseits, der Stadtschultheiß in Frankfurt war, hatte noch ein Nachspiel.
Besagter Großvater veranlasste den Magistrat, die Hebammen durch den Stadtmedicus zusammenrufen zu lassen und ihnen Unterricht zu erteilen. Die Erzählung der Großmutter von dem schwarzgeborenen Jungen gab den Anlass dazu. Die Hebamme ärgerte das ein wenig. Was hätte sie bei der Geburt denn anders machen können? Sie war sich keiner Schuld bewußt.
Bei ihr zu Hause lief alles gut. Mit ihrer Hilfe hatte ihre Tochter zwei Jungen geboren. Gott sei Dank hatte ihre Tochter genug Milch, um die hungrigen Zwillinge beide stillen zu können. Die Hebamme, für ihren Teil jetzt Mutter und Großmutter, saß oft daneben, wenn ihre Tochter stillte, und freute sich, wenn die beiden Knaben um die Wette schmatzten. Zu dieser Zeit pflegte sie zwei begüterte Wöchnerinnen, die ihr Essen für die Tochter mitgaben. Auch ihr Mann wurde wieder umgänglicher, obwohl sich sein Leiden nicht besserte. Was war sie froh, diesen Beruf zu haben!
Frau Rath Goethe traf sie noch einmal auf dem Römerberg. Der dreijährige Junge ging an der Hand der Mutter, die zweijährige Cornelia wurde von der Großmutter geführt. Die junge Frau beugte sich zu ihrem Erstgeborenen herunter und sagte etwas zu ihm, worauf dieser für lange Zeit neugierig und freundlich zu seiner Hebamme hinüberäugte. ◼
Kommentar von Jussi Isaksen
SELBDRITT ANNO 1967 ZU BERLIN Meine Großmutter Therese, 44, ich selbst, 333 Tage alt, wohlgenährt und mit dem Tage abrupt abgestillt – an der Wiege meines Bruders Lukas Albertus Niklas, unversehens nachgeboren. Geholt hat uns die Frau Großmama nicht; bei den drängenden Jungen kam sie um Stunden zu spät.
Kommentar von Jussi Isaksen
Therese Schlundt, 10.08.1922-26.12.2014 … die vielen von ihr geholten Kinder sind allesamt fremd
Soundtrack
Die Wehfrauen Schifra und Pua im Palast des Pharao
MARC CHAGALL Die hebräischen ‘sage femmes’ trotzen dem ägyptischen König
Post Scriptum
post scriptum
Vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen: Simone »CléoPâtre« de Beauvoir sagt, Goethe sage … ; Brutus aber sagt: Die Wonnen des Unglücks liegen darin, sich stets des Elends der anfänglichen Unmündigkeit zu erinnern — also der Kindheitsträume in Gestalt von Alpträumen.
◼ THE KASSIBER Copyright © 2013 by J. Isaksen. Alle Rechte vorbehalten.