THE KASSIBER by J. Isaksen


Collapsus

Kassibert am von J. Isaksen.  Lesezeit: ungefähr 2 Minuten. Kommentar mailen

Von J. Isaksen

Diese restaurierte Archivalie aus dem Fahrtenbuch eines Herumgekommenen wirft die Frage auf: Ein Lapsus nur – oder ein kompletter Zusammenbruch?


Triebwagen ohne Fahrgastzelle

Als die erde sich auftat, und im Jahre des Herrn 2009 das Stadtarchiv zu Cölln verschlungen ward, weilte ich im oberen Bayern. In einer motorisierten Droschke von elfenbeinfarbener Lackierung ging es geschwind gen Mittag. Die Kunde vom fernen Rheine war – welch Wunder! – klar und deutlich aus einer mitgeführten Radioapparatur zu vernehmen. Der Chauffeur osmanischer Herkunft kam nicht umhin meine tiefe Erschütterung zu registrieren. Der gute Mann rang nach Fassung und kam schließlich, just als wir bei Bad Tölz die Brücke über die Isar passierten, mit einem beredten Kopfschütteln. Und dasz so etwas in deutschen Landen möglich sei! – rief er mir noch über die Schulter zu.

Zunächst wusste ich nicht, ob ich es als schlechtweg unverschämt erachten sollte, dass der unbedarfte Orientale sich über die Hinfälligkeit treudeutscher Grundsätze mokierte. Dann aber schweiften meine Gedanken ab, mein Blick wanderte über die vorbeifliegenden Felder und Auen, erfasste hier und dort das geschäftige Leutvolk beim Tagwerk. Die Dörfer waren aufs Schmuckeste hergerichtet. Der Himmel gab sich blau und unschuldig. Über allem schwebte der Geist von Rechtschaffenheit und Fleiß. Und in höheren Sphären – nicht unbedingt hier auf dem Dorfe, aber dennoch gleicher Zunge – waren jetzt die Stimmen der Dichter und Denker mit ihrem hehren Ideal von der Kultur zu vernehmen. Welch unwiederbringbarer Verlust an Schriftgut war beim vermeldeten Einsturz zu beklagen!

Erst ein weiteres Wort des Türken holte mich auf die staubige Landstraße zurück. Er sprach von den armen Menschen, die beim Kollaps tot geblieben seien: ein muselmanischer Glaubensbruder, als Student in der Stadt, und der Geselle der koscheren Backstube, ruhend von der Nachtarbeit.

Jetzt schien mir,  meine Abschweifungen seien es, die höchst unangebracht daherkamen. Ich hatte keinen Gedanken an die verlorenen Seelen verschwendet, und erst der fremdländische Mann auf dem Kutschbock musste mich an die Bedeutung des Lebens erinnern. Welch unverzeihlicher Lapsus! Es dünkte mich gar, es läge in meinem deutschen Gemüt begründet, dass mir zunächst der angemessene Blick auf das Schicksal des Einzelnen versperrt blieb. Das Schwärmen vom erhabenen Ideal der Menschheit trieb mir sogleich die Tränen in die Augen – aber die einzelne Kreatur, was empfand ich für sie? Saß da nicht schon die ganze Zeit der ewige Hegel auf meiner Schulter und faselte etwas von der Totalität des philosophischen Anspruchs?

Nach ei­ner ver­buch­ten Ta­xenfahrt zum im Ba­ju­wa­ri­schen an­ge­sie­del­ten Schwest­er­herz.

Abb.: Fraglicher şoför – hier mit Triebwagen ohne Fahrgastzelle

THE KASSIBER Copyright © 2013 by J. Isaksen. Alle Rechte vorbehalten.