THE KASSIBER by J. Isaksen


Letzte Worte: Versteht mich denn keiner?

Kassibert am von J. Isaksen.  Lesezeit: ungefähr 6 Minuten. Kommentar mailen

Von J. Isaksen

THREE DIRTY OLD MEN Dieser Tage hat sie mich heimgesucht: meine krüppelige Wahlverwandtschaft aus dem Jenseits. Die rüstigen Herren waren als Anachronisten unserer Zeit da.

Der Ulysses kam als Buch – und hatte doch einen eingebauten, nicht einmal geheimen Soundtrack: (THOSE LOVELY) SEASIDE GIRLS.

ABSICHTSVERKLÄRUNG = (MIS)LEADING LETTER OF INTEND

I don’t want to be as good as Beckett, Nabokov or Joyce. I just want to be as bad, as nasty, as juicy. In that order; to indicate the (non)intended affinity by the leading letter.
Not in real life – perish the thought! – just in artful words: bland blandishments re-worded into literary lust.

Der Tagebucheintrag ist von gestern.
Lässt den Eintragenden verdammt alt* aussehen.
*Nenn mir deine Idole, und ich sage dir deinen Jahrgang.

Erst gestern Abend noch habe ich zusammengesessen mit Ohm Schmul, Wowa Babochka und Jakub Stanislowski, meinen reichen Onkels, allesamt schon lange über den Jordan. Die Sippe mag es nicht, wenn ich ausgerechnet mit denen, die überaus reichlich zu geben haben, respektlos umgehe, also noch einmal wie es sich gehört: Ich und meine lieben Onkel Samuel und Vladimir, dazu der Großonkel James, vereint bei einer Tasse Ovomaltine auf einer Terrasse an der Seepromenade von und zu Zürich. Tot sind und bleiben sie trotzdem. Und von meinem Vorrecht, den Herren jederzeit hemdsärmelig zu begegnen – ja bei dem schönen Wetter gar in kurzen Hosen – werde ich mich nicht abbringen lassen.

Das Lokal hat sich angeboten, weil es für den halbblinden Großonkel leicht zu erreichen ist; der gute James musste nur den Züricherberg runter. Onkel Vladimir hatte es aus Montreux auch nicht weit. Und für Onkel Samuel gab ich eine günstige Direktverbindung aus Paris. Es wurde Kakao für alle bestellt, weil der abseitigste der Herren meinte – ich werde nicht sagen, wer das war – als Toter vertrage man keinen Kaffee. Man verwandele sich dann zu einem Zombie mit Spannung im Schritt, einer gewaltigen Spannung, die das mürbe Zwirn des Totenhemdes zu sprengen drohe, se capisci cosa intendo …

Wir waren zunächst auf Italienisch unterwegs, wechselten aber bald in einen Mischmasch aus Englisch, Deutsch und Französisch, mit ein paar Brocken Russisch ab und an. Dem Großonkel tat das Italienisch weh, weil es die Sprache war, in der er mit seiner verrückt geworden Tochter Lucia sprach – sein größter Schmerz.

Samuel und Vladimir waren berühmt dafür, ganz souverän zwischen den Sprachen hin und her zu wechseln; Großonkel James hingegen war eher berüchtigt, das Ganze zu einem einzigen Kuddelmuddel zu vermengen, gerade gegen Ende hin. Drei, vier der indo-europäischen “Dialekte” seien doch mindeste, was man im Repertoire haben müsse, war man sich einig. Samuel hatte lange überlegt, ob er nicht von der Muttersprache Englisch ins Deutschen überwechseln solle, um die angestrebte Reduzierung und Schmucklosigkeit der Sprache noch weiter voranzutreiben. Der Abfall der Deutschen von der Weimarer Republik habe ihm das aber unmöglich gemacht. Das stattdessen gewählte Französisch habe er als Romanist eigentlich viel zu gut beherrscht. Und im Hauptwerk des Großonkels gab es im Hades-Kapitel – gerade dort – den zentralen Imperativ “Learn German too”. Alle drei bestanden zu Lebzeiten jedenfalls darauf, über die deutschen Ausgaben ihrer Schriften das oberste Lektorat zu behalten. Ich nehme einmal an, dass es die bunte Exilgeschichte der Drei es ist, die sie an die produktiven Sprachflüsse von Babylon verschlagen hat.

Ein paar Fragen hatte ich schon an die Herren, eher nebensächlicher Natur, aber dabei ergeben sind bisweilen die interessantesten Antworten. So wollte ich wissen, ob es tatsächlich so gewesen sei, dass Onkel Samuel seine Kündigung als Französisch-Dozent am altehrwürdigen Trinity College auf einer beschriebenen Rolle Klopapier eingereicht habe. Und ob dann das College vor Schreck wirklich alle Schlösser habe austauschen lassen, nur weil er seinen Generalschlüssel nicht rausgerückt habe. Onkel Samuel als Meister des absurden Theaters fand das dann doch zu banal und strebte größeren Fragen zu.

Unsterblich durch ihre Werke – erst jetzt gehe ihnen der Wortsinn auf

Das untote Dasein sei weniger ein Problem an sich, es störe allein der Fakt, dass keiner mehr mit einem spreche! Meinten jetzt alle Drei im Gleichklang der Vereinsamung. Man habe sie seziert, ausgenommen, den Unterleib abgetrennt und den verbleibenden Torso dann auf eine Säule gesetzt, in Bronze gegossen. Es werde viel über sie geredet – naja, mittlerweile auch das nicht mehr – aber mit ihnen rede schon lange keiner mehr. Und auf Augenhöhe schon einmal gar nicht. So eine Ödnis! Traue sich denn niemand? Vielleicht wüssten die Menschen einfach nicht, dass die seit Ewigkeiten Verblichenen weiterhin ansprechbar seien – war die Wortbrücke über den Salzsee der Ödnis, die ich daraufhin zu bauen versuchte. “Aber hallo!”, hieß es im Chor. “Da habe man zigtausende Worte verfasst, und jedes einzelne handelt davon, dass man erhört werden wolle. Selbst die weggelassenen bei Samuel hungern danach. Und da ist wirklich niemand, der diese Worte vernommen hat?”

Der Großonkel wurde noch einmal deutlicher. Ihn gräme im besonderen, dass es weiterhin unzählige verschlüsselte Textstellen gäbe, die noch niemand entdeckt habe und die einer Jungfrau gleich im Dornröschensarg versauerten. Da könne man doch keine Ruhe finden! Onkel Samuel und Vladimir meinten nur, nun ja mit dem Finnegan hätte er es schließlich auch ein bisschen übertrieben, das mit der kryptischen Babylonisierung. Onkel Samuel hatte sich ja nicht nur selbst übersetzt, kreuz und quer, sondern auch einige Kapitel des Großonkels, wußte also wovon er sprach. Nein, nein, auch im Ulysses gäbe es noch dick aufgetragenen Subtext, direkt unter der Oberfläche – beziehungsweise Gürtellinie – und eigentlich kaum zu übersehen. Dabei schwang er seien Stock, als wolle er dem Himmel zürnen.

Das interessiert mich dann doch, und ich hake nach. Der Großonkel ziert sich ein wenig: Naja, als er Molly in den Beichtstuhl geschickt habe, gebe sie ja an, dass sie sich habe unziemlich berühren lassen. Der Priester frage nach, wo genau … und jetzt komme es; Molly: “At the bridge down by the canal”. Der Priester meine daraufhin, er habe nach der Körperstelle gefragt, nicht nach der Örtlichkeit. Und dabei habe er, der ewiglich unverstandene James, Molly doch gleichzeitig im Sinne einer topografischen Geografie und einer topografischen Anatomie sprechen lassen. Er sage es jetzt einmal auf Latein: “Perineum … It’s a pun. Don’t you get it? The bridge down by the (c)anal … down by the cloaca?” Kein Schwein hätte das bis heute so gesehen.

Die beiden anderen waren sofort Feuer und Flamme und kamen ihrerseits mit Dingen, die die Welt in ihren Werken übersehen hatte. Da saß ich also mit drei alten Herren, die den Brückenschlag zwischen dem analen und vaginalen Bereich als wichtiges Detail in einem Wortspiel zwischen Beichtstuhl und Buchdeckel erachteten. Irgendwann bestellte sich der Großonkel doch eine Tasse Kaffee. Die verbleibenden Kakao-Brüder guckten sich kurz an und zogen dann mit. “Vier Kinderkaffee zum mitnehmen, bitte!”, oder wie es heute heißt: “Latte Macchiato to go”. Wir werden ein Stück gehen, die Uferpromenade entlang.

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